Der Winter kehrt zurück – könnte man heute (08.05.2022) morgen meinen. Die Gipfel rundherum sind frisch gepudert, die Außentemperatur liegt gerade mal noch bei 3° Celsius und es regnet – äußerst ungemütlich also. Üblich wäre das zu dieser Jahreszeit nicht, meint Liana, aber wir sind nunmal auf 1.900 Metern Höhe und vor allem die Nächte können schon noch kalt werden. Also noch einmal warm anziehen – wir sind ja für alles gerüstet. Heute ist das Zwiebelprinzip wieder besonders wichtig, denn wenn wir dann nach dem vor uns liegenden Selimpass (2.400 Meter) weiter in Richtung der Hauptstadt Yerevan unterwegs sein werden, soll es wärmer werden. So starten wir nach dem Frühstück
mit unserem Busfahrer Vartan und fahren noch eine ganze Strecke am Sevansee entlang. Nach der Sowjetzeit wurden Überlegungen und Anstrengungen angestellt, den Wasserverlust des Sees wieder auszugleichen. Aber die Menschen rund um den See hatten die trockengefallenen Bereiche schon zu einem großen Teil bepflanzt und besiedelt. So konnten nur 2 von 18 Metern wieder auffüllen realisiert werden – die Widerstände zur Aufgabe der „neuen“ Ländereien waren einfach zu groß.
Um nach Südarmenien zu gelangen, müssen wir heute über den Selimpass, dahinter wartet die „Alte Karawanserei“ auf uns. Aber zunächst müssen wir über den Pass auf 2.400 Metern Höhe. Das Wetter bleibt scheußlich und mit zunehmender Höhe wird aus Regen Schneeregen gemischt mit Graupelschauern, dann letztlich purer Schnee. Und es geht bergauf – bis auf rund 2.200 Meter Höhe kommen wir, dann ist erst einmal Schluss. Die letzten Meter fahren wir mit durchdrehenden Rädern, dann rutschen wir auch leicht. Letztlich bleibt unserem Busfahrer Vartan nichts anderes übrig als anzuhalten. Erst einmal wird der Bus gesichert, ein Keil rechts, ein großer Stein links hinter die vorderen Räder. Inzwischen schneit es doch recht heftig, und auch wenn es sehr nasser, schwerer Schnee ist, bleibt er zunächst auf der Fahrbahn liegen. Die Telefone unserer Führerin Liana und unseres Busfahrers laufen heiß – die Kontakte in der Nähe werden informiert und befragt, ob über den weiteren Verlauf der Strecke etwas bekannt ist. Ein entgegenkommenden Fahrer hält auch an, als ihm unser Busfahrer Zeichen gibt: alle sagen das gleiche: es wäre nur hier an diesem Hang so schlimm. Nach dem nächsten Hügel würde es schon besser, der Pass selbst wäre frei. So steigen wir alle erst einmal aus, damit unser Vartan den Bus zuerst etwas zurücksetzen kann. Er will das alleine probieren, um niemanden zu gefährden. Dann will er einen zweiten Anlauf wagen. Gesagt, getan – das Wetter bessert sich auch etwas, der Schneefall hört auf, auf der Straße beginnt der Schnee etwas zu tauen. Und tatsächlich: wir schaffen den Hügel im zweiten Anlauf – bald dahinter fahren wir wieder auf einer schneefreien Straße. Wir sind froh und dankbar: Vartan ist mit der Situation mit seiner ruhigen, besonnenen Art und seiner langjährigen Erfahrung gut umgegangen. Hätten wir umkehren müssen, wäre die Fahrt nach Yerevan wesentlich länger geworden, die Programmpunkte heute ins Wasser gefallen.
Den Selimpass bewältigen wir ohne weitere Probleme und kurz danach steht unser erster Halt auf dem Programm: die alte Karawanserei am Selimpass. Sie war eine der wichtigsten Karawansereien und ist die bis heute am besten erhaltene (Zerstörung im 15./16. Jhdt, Renovierung 1956). Diese Karawanserei ist zwar nur eine von vielen in Armenien, aber sie ist eine der wichtigsten und die am besten erhaltene. Sie ist ein Rastpunkt an der armenischen Seidenstraße, die arabisch-persische Welt mit den Ländern des Kaukasus und weiter des westlichen Europas verband. Ein mittelalterlicher Rast- und Übernachtungsplatz in dem die Reiter und Lasttiere der Karawanen die Nacht verbrachten, die die Waren für die Märkte in Europa und den Orient transportierten,
Eine persische Inschrift an der Aussenseite wie auch eine unauffälligere armenische auf der Innenseite des Eingangs geben Auskunft über den Bauherrn, den Prinzen Tschesar Orbelian, und das Erbauungsjahr 1332. Die Karawanserei hat nur einen einzigen Eingang, so dass Diebe wenig Chancen hatten, an die Waren der Handelsreisenden zu kommen. Die Haupthalle der Karawanserei ist durch sieben Säulenpaare in drei Schiffe unterteilt. Die beiden schmaleren Seitenschiffe waren für die Kaufleute und ihre Waren, während Tiere in der Mitte der Halle standen oder auch draußen angepflockt wurden.
Licht und Belüftung kommen nur durch kleine Öffnungen im Dach herein, wirklich hell ist es daher im Inneren nicht. Ein Taschenlampe oder das Handy-Licht helfen, auf dem unebenen Boden gut hinein wie hinaus zu gelangen.
Nach der Besichtigung erwartet uns eine Überraschung: aufgrund der Telefonate mit ortsansässigen Kontakten ist einer von ihnen in sein Auto gestiegen und uns entgegengefahren. Wir treffen ihn an der Karawanserei und er ist froh, uns alle gesund und munter zu sehen. Und weil es so kalt und so aufregend war, bringt er uns etwas zur Schreckbewältigung und zum Wärmen mit: etwas getrocknetes Obst (das Obst in „Schnüren“) und ein 5-Liter-Kanister Maulbeerschnaps – alles selbstgemacht natürlich. Der Schnaps riecht und schmeckt sehr gut. Alle greifen zu und völlig unerwartet bietet sich eine Gelegenheit, ein besonderes Mitbringsel zu erwerben. Da der Bauer nur helfen wollte, hat er nichts zum Abfüllen dabei und so leert der eine oder andere ganz schnell seine Wasserflasche, um sie mit gekauftem Schnaps füllen zu können.
Dann müssen wir weiter. Und bald schon wird es draußen wirklich wärmer, alles grüner, erste Gärten um die kleinen Häuser und Obstanlagen rundherum werden häufiger. Unser Mittagessen inklusive einer kleinen Weinverkostung bekommen wir heute auf einem Bauernhof mit rustikalem Weinkeller. Wir sitzen draußen und genießen die Köstlichkeiten wie das Wetter, das hier jetzt frühlingshaft warm ist. Danach steht die letzte Etappe für heute an: Das Kloster Norawank und Khor Virap wollen wir noch besichtigen und dann in Yerevan unser Hotel beziehen.